Um jeden Preis…
Und da sitzen wir Eltern, den Druck im Nacken und geben ihn
weiter. Täglich werden neue Listen mit Arbeit in den unterschiedlichsten
Portalen hochgeladen und manch einer sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht
mehr.
Wir alle nehmen zur Zeit am größten Sozialexperiment aller
Zeiten teil, ob wir wollen oder nicht. Hier gab es diesmal kein Häkchen, wo wir
unsere Zustimmung geben konnten.
Von heute auf morgen müssen sich Familien neu organisieren.
Familien stehen auf dem Prüfstand. Jeder von uns übt momentan mehrere Jobs
gleichzeitig aus. Seid euch alle dessen bewusst! Ich habe heute wieder
zahlreiche Emails bekommen, in denen Eltern bundesweit mir ihre Verzweiflung
mitteilen. Sie denken, dass sie die einzigen aus der Klasse sind, die das
Pensum nicht schaffen.
Ich sage euch: NEIN! Und HALT STOP! Niemand muss dieses
Pensum schaffen. Es wird nicht erwartet. Wir Lehrer haben einen Job und den
führen auch wir momentan auf eine ganz neue Art und Weise aus. Es ist für uns
unbekannt, nicht in die Lernsituation eurer Kinder eingreifen zu können. Unser
Job ist es, zu unterrichten und zu steuern. Wenn wir sehen, dass es in die
falsche Richtung geht, greifen wir ein. DAS können wir momentan nicht aus der
Ferne. Wir sind auf euch angewiesen. Auch in der Schule schaffen nicht alle
Kinder das gleiche Pensum. DAS ist unser Job. In den 90 Minuten passen wir
fortwährend an, individuell. Ich kenne niemanden, der vorn steht und von allen
das Gleiche verlangt. Wir geben uns zufrieden, wenn Aufgaben nicht geschafft werden.
Auch bei uns laufen Stunden nicht gut. Auch wir haben Stunden, aus denen wir
rausgehen und denken: Mist, morgen nochmal von vorn. Das war nichts.
Ihr seid Eltern! Und Eltern sollten keine Lehrer sein. Macht
euch diesen Satz bewusst! Wir geben euch Material an die Hand, damit eure
Kinder zu Hause lernen können. Wir geben euch kein Material, damit ihr zu Hause
unter Druck seid, alles schaffen zu müssen. Wir sind uns bewusst darüber, dass
wir nicht, wenn alles vorbei ist, so tun können als wäre nichts passiert.
Der Stress zieht sich grad durch alle Häuser. Das seht ihr
an den Rückmeldungen in den sozialen Netzwerken. Egal in welcher Konstellation
Familien zusammenleben, es ist eine nie da gewesene Herausforderung!
Schule hat vorher auch schon für Stress gesorgt, nur dass es
größtenteils in der Schule ausgetragen und verarbeitet wurde. Jetzt finden wir
diesen Stress in unseren eigenen vier Wänden – unserem zu Hause.
Gerade jetzt liebe Eltern, ist es so enorm wichtig, dass ihr auf eure Grenzen achtet. Zieht Grenzen in dem Stoff, der euch gegeben wird. Selbstständiges Arbeiten ist eine Kompetenz, die über Jahre geübt werden muss. Das funktioniert nicht über Nacht und nur weil Corona plötzlich da ist. Schaut euch auf Arbeit um. Auch viele Erwachsene haben enorme Herausforderungen mit dem selbstständigen Arbeiten.
Ja, ich als Mutter sehe in dieser Zeit mehr als deutlich,
dass Schule mehr ist… Meine Intension damals Lehrerin zu werden, war eine
Gemeinschaft zu fördern. Eine Gemeinschaft aus Eltern, Lehrern, Schülern und
Experten, denn das ist Schule. Weder der eine noch der andere kann das allein
meistern und bewältigen. Ich bekomme zahlreiche Nachrichten, in denen Eltern
aus allen Bundesländern mir schildern, dass sie jetzt endlich verstehen, woran
es bei ihrem Kind scheitert. Ja, das ist doch etwas Positives, denn hieraus
entsteht eine Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern – Verständnis füreinander!
Ich bekomme Emails aus allen Bundesländern, dass die Kinder doch keine
Inselbegabung haben, sondern einfach nur selbstständig lernen können. Ja, auch
das ist doch etwas Positives!
Auch ich bin als Mutter von vier Kindern teilweise
überfordert von all den Materialien, Apps und Links, aber auch hier bitte ich
euch ein wenig um Verständnis. Wir waren nicht vorbereitet auf diese Situation.
Unser Bildungssystem ist dafür nicht ausgebildet. Wir sitzen jetzt zu Hause,
weg von unseren Schülern, unser Hauptarbeitsmittel, mit Dienstpflichten im
Nacken, mit Erwartungen auf der Brust. „Das ist dein Job meine Liebe“, schrieb
mir heute eine Mutter… Ja, das stimmt und wir alle versuchen unseren Job
bestmöglich auszuführen, jeder nach seinen Möglichkeiten.
In der ersten Woche habe ich dieselben Fehler gemacht.
Erstmal viel Material zur Verfügung gestellt, um meine Arbeit zu machen, um
Erwartungen zu erfüllen. Ich habe mehr als 12 Stunden am Tag gearbeitet, um
mich möglichst schnell digital weiterzubilden. Dabei habe ich ganz vergessen,
dass die Eltern meiner Schüler gar nicht die Zeit dazu haben, sich ebenso schnell
weiterzubilden. Ich habe sie also nicht da abgeholt, wo sich einige befinden,
denn auch bei den Eltern gibt es erhebliche Unterschiede in der
Medienkompetenz.
Ja, es gibt Familien, die können das bewältigen und ja, es
gibt auch Kinder, die genau das brauchen und auch ihnen müssen wir gerecht
werden. Es gibt aber auch Elternhäuser, wo beide Elternteile in
systemkritischen Berufen arbeiten und die Kinder in der Notbetreuung sind.
Diese Eltern haben am Nachmittag gar nicht mehr die psychischen Ressourcen, um
Unterricht zu vermitteln.
Es gibt Familien, die weit unter der Mindestgrenze leben.
Familien, die die technischen Möglichkeiten nicht besitzen. Familien, in denen
sieben und mehr Geschwister auf 60 qm leben und es keinen Ort des Rückzugs
gibt. Familien, die sich wenig um ihre Kinder kümmern. Familien mit erheblichen
Sprachbarrieren. Familien, die Schule nie einer Bedeutung beigemessen haben.
Familien, die vor 30 Jahren das letzte Mal in der Schule gewesen sind und vom „Imperativ“
noch nie etwas gehört haben.
All diese Kinder können wir im wahren Unterricht abholen,
den Stoff der Situation anpassen. Das fällt jetzt weg.
„Warum macht ihr denn keinen Online-Unterricht“ wurde ich
heute gefragt. Unterricht muss JEDEM zugänglich sein. Um Online Unterricht zu
machen, müsste JEDER die technischen Voraussetzungen haben. Um Online
Unterricht zu machen, müssten alle eine entsprechende Medienkompetenz haben….all
das wurde bisher verpasst in unserem Bildungssystem und genau deshalb können
wir Online Unterricht nicht verpflichtend anbieten, sondern nur als
Möglichkeit.
Heute lese ich in der Zeitung, dass Eltern in MV verzweifelt
sind und sagen, dass die Hälfte das nicht packen wird. Sozialer Sprengstoff
wird es genannt. Und noch einmal: bitte liebe Eltern, setzt euch nicht unter
Druck! Keiner kann so tun als wenn nichts gewesen wäre.
Unser Satz „Wir müssen die Kinder da abholen, wo sie stehen“
wird mehr denn je Bedeutung haben, wenn wir wieder zum Normalbetrieb übergehen!
Darüber sind wir uns alle einig.
„Ich sitze mit meiner Tochter von 08:30Uhr – 18:30Uhr, um das
alles zu schaffen, weil ich das Gefühl habe, ich bin die einzige Mutter, die
das nicht auf die Reihe bekommt. Ich möchte so gern Märchen mit meiner Tochter
gucken.“ Dann tu das bitte! Märchen gucken ist auch lernen, wenn ihr darüber
sprecht und euch über die Handlung unterhaltet. Märchen ist sogar ein eigenes
Thema im Deutschunterricht. Also guck bitte Märchen anstatt über Englisch zu
sitzen – eine Sprache, die du nie gelernt hast und damit deinem Kind auch gar
nicht richtig beibringen kannst. Mach, das was du kannst, denn das machst du
gut! Bei allem anderen leidet eure Eltern-Kind-Beziehung und das ist in der
jetzigen Situation das Letzte, was ihr gebrauchen könnt.
Wir haben als Familien eine nie dagewesene Situation zusammen zu bewältigen und das Fördern sozialer Kompetenzen ist jetzt wichtiger denn je, denn eure Kinder werden sich an genau diese Kompetenzen erinnern, wenn sie eine Krise allein meistern müssen. Das ist es, was ihr ihnen jetzt beibringen könnt!
Ich kenne keinen Kollegen, der zur Zeit die Sonne genießt.
Alle meine Kollegen arbeiten unter Hochdruck, um alles so normal wie möglich zu
halten, damit das Lernen für ALLE weiter
stattfinden kann. Wir tauschen uns aus, nicht nur untereinander im Kollegium,
sondern bundesweit. Ich stand noch nie mit so vielen Lehrer wie jetzt in
Kontakt, denn jedes Bundesland handhabt es anders. Wir gucken Webinare, YouTube
Tutorials und machen live.Schaltungen, um zusammen ein Erklärvideo zu drehen.
Wir machen bis in die Nacht Videokonferenzen, um die verschiedenen Tools
auszuprobieren und das optimalste für die eigene Klasse zu finden. Wir
beantragen füreinander Lizenzen bei zahlreichen Lernplattformen und tauschen
diese aus. Wir testen bis spät in die Nacht unterschiedliche Plattformen und
tauschen uns anschließend aus, um die optimalste für die eigene Klasse zu
finden. Nein, wir sitzen nicht in der Sonne!
Ja, in jedem Schlechten steckt etwas Gutes. Die
Digitalisierung hat innerhalb von 11 Tagen einen enormen Fortschritt gemacht.
In meinen Augen einen so gewaltigen Fortschritt wie ich ihn ohne Corona in den
nächsten 10 Jahren für mich nicht erreicht hätte. Das ist der beste Praxistest,
den wir als Schule und Eltern haben können, denn dieses Wissen hätten wir im
Unterricht niemals an den Mann bringen und umsetzen können. Niemals hätte ich
mit meinen Schülern soviel ausprobieren können. Für mich als Lehrerin hat es
einen enormen Mehrwert bis jetzt gebracht. Ich fühle mich sehr verbunden mit
den Eltern meiner Schüler, denn es zeigt auf beeindruckende Art und Weise wie
Zusammenarbeit funktioniert.
Also liebe Eltern, lernt, aber arbeitet nicht ab. Macht, das
was ihr könnt, denn das werdet ihr gut machen!
Ja, ich werde sentimental, wenn ich darüber nachdenke, denn
genau das war meine Intension als ich Lehrerin wurde…
Schule ist soviel mehr…um jeden Preis….
Eure Kristin